Vegetarische Ernährung - ein Artikel von Dr. Markus Keller
Die Entwicklung des Vegetarismus geht weit bis in die Antike zurück. Der
Mathematiker und Philosoph Pythagoras (um 570 bis um 500 v. Chr.) gilt als
Begründer des antiken Vegetarismus. Während in den vergangenen Jahrhunderten bewusst
und aus freier Entscheidung vegetarisch lebende Menschen eher selten waren, nimmt
deren Zahl seit Jahren zu. So verdoppelte sich beispielsweise die Mitgliederzahl
des Vegetarierbund Deutschland e.V. (VEBU) zwischen 2008 und 2011 von 2.500 auf
5.000 Unterstützer. Die Gesamtzahl der Vegetarier in Deutschland wird auf etwa 6
Millionen geschätzt.
Vom Lakto-Ovo-Vegetarier bis zum Veganer
Je nach Lebensmittelauswahl gibt es verschiedene Arten vegetarischer
Ernährungsweisen. Die häufigste Form ist der Lakto-Ovo-Vegetarismus, bei dem
weder Fleisch noch Fisch, aber Eier sowie Milch und Milchprodukte verzehrt
werden. Seltener gibt es Lakto- bzw. Ovo-Vegetarier, die ebenfalls weder Fleisch
noch Fisch essen, aber zusätzlich auch Eier (Lakto-Vegetarier) bzw. Milch und
Milchprodukte (Ovo-Vegetarier) meiden. Die konsequenteste Form des Vegetarismus
praktizieren Veganer – sie lehnen alle Produkte tierischen Ursprungs ab. Waren
es früher vor allem gesundheitliche Beweggründe, so sind es heute meist
ethische Motive, aus denen heraus Menschen kein Fleisch mehr konsumieren
möchten. Außerdem können auch religiöse, ökologische, kosmetische, politische
oder spirituelle Überlegungen eine Rolle spielen. Oft ist es eine Mischung
verschiedener Motive, die Menschen zu Vegetariern werden lässt.
Mit vegetarischer Ernährung gegen Zivilisationskrankheiten
Während die vegetarische Ernährung in der Vergangenheit vor allem unter dem
Blickwinkel der ausreichenden Nährstoffversorgung untersucht wurde, liegt der
Fokus der Forschung heute auf den möglichen gesundheitlichen Vorteilen. Zahlreiche,
teilweise groß angelegte Studien zeigen, dass Vegetarier deutlich seltener als
Nicht-Vegetarier an Herz-Kreislauf-Erkrankungen – weltweit die häufigste
Todesursache – erkranken und sterben. Wichtigste Ursache dafür ist, dass
Vegetarier günstigere Cholesterinspiegel aufweisen, insbesondere beim
schädlichen LDL-Cholesterin. Auch weitere Risikofaktoren für Atherosklerose und
Herzinfarkt kommen bei Vegetariern seltener vor. So haben vegetarisch lebende
Menschen im Durchschnitt ein geringeres Körpergewicht sowie einen niedrigeren
Body Mass Index (BMI) als Fleischesser; entsprechend leiden sie deutlich
seltener an Übergewicht und Adipositas. Auch an Diabetes mellitus Typ 2, einer
typischen Wohlstandserkrankung, erkranken Vegetarier wesentlich seltener als die
Durchschnittsbevölkerung. Während in Deutschland bei etwa 7 bis 9 Prozent der
Bevölkerung ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert wurde, liegt die Häufigkeit bei
Vegetariern bei etwa 3 Prozent. Bluthochdruck, der wichtigste Risikofaktor für
eine erhöhte Sterblichkeit, kommt bei vegetarisch lebenden Menschen ebenfalls
deutlich seltener vor als bei Nicht-Vegetariern. Zudem sind die
durchschnittlichen Blutdruckwerte bei Vegetariern niedriger. Weitere Vorteile
der vegetarischen Ernährung zeigen sich bei der Prävention von Gicht, der
häufigsten Form rheumatischer Gelenkerkrankungen. Auch das Risiko für verschiedene
Krebsarten (vor allem Dickdarm-, Brust- und Prostatakrebs) kann durch eine
vegetarische Ernährung gesenkt werden.
Zwar spielt für das geringere Risiko der genannten Erkrankungen auch das
generell höhere Gesundheitsbewusstsein von vegetarisch lebenden Menschen eine
Rolle. So ist der Anteil an Rauchern bei den Vegetariern deutlich niedriger als
bei Nicht-Vegetarier, außerdem treiben sie regelmäßiger und öfter Sport. Diese
Effekte werden jedoch in den Ernährungsstudien berücksichtigt, mit dem
Ergebnis, dass die Gesundheitsvorteile von Vegetariern zu einem Großteil auf
die gesundheitsfördernden Wirkungen der vegetarischen Ernährungsweise selbst
zurückzuführen sind. Entscheidend ist insbesondere der höhere Verzehr
naturbelassener pflanzlicher Lebensmittel, wie Gemüse, Obst, Vollkornprodukte
und Hülsenfrüchte. Diese liefern neben zahlreichen Vitaminen und Mineralstoffen
auch gesundheitsfördernde Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe.
Bei der Nährstoffversorgung liegen Vegetarier oft vorn
Bei den Hauptnährstoffen Kohlenhydrate, Protein (Eiweiß) und Fett liegen
Vegetarier näher an den Empfehlungen als Nicht-Vegetarier. Die tägliche
Nahrungsenergieaufnahme sollte sich auf mindestens 50 Prozent Kohlenhydrate, 9
bis 11 Prozent Protein und 25 bis 30 Prozent Fett verteilen. Besonders durch
den Konsum von Fleisch und Wurst wird in der Allgemeinbevölkerung zu viel
Energie sowie zu viel Fett und Protein aufgenommen. Aber auch viele Vegetarier
nehmen mehr Fett und Protein auf als notwendig wäre. Bestens versorgt – und meist
besser als Fleischesser – sind Vegetarier mit den Vitaminen A (bzw. β-Carotin),
C, E, B1, Biotin, Pantothensäure sowie Folat (Folsäure), außerdem mit dem Mineralstoff Magnesium.
Auf potentiell kritische Nährstoffe achten
Bei ungünstig zusammengestellter Kost können sich bei vegetarischer
Ernährungsweise Probleme aus der ungenügenden Zufuhr einzelner kritischer
Nährstoffe ergeben. Hierzu zählen Eisen, Zink, Jod und Vitamin D. Die letzten
beiden Nährstoffe betreffen jedoch – unabhängig von der Ernährungsweise – die
Gesamtbevölkerung.
Eisen
Eisenmangel ist der weltweit häufigste Nährstoffmangel. Besonders
Schwangere und Kinder sind betroffen, in Deutschland leiden in diesen beiden Gruppen
je etwa 20 Prozent an Eisenmangel. Aber auch viele Mädchen und Frauen im
gebärfähigen Alter sind nicht ausreichend mit Eisen versorgt: etwa 75 Prozent erreichen
nicht die Zufuhrempfehlungen von 15 mg Eisen pro Tag – unabhängig von der
Ernährungsweise. Vegetarisch lebende Frauen sind demnach nicht häufiger von
einem Eisenmangel betroffen als nicht-vegetarisch lebende. Dennoch gibt es bei
vegetarischer Ernährung bestimmte Dinge zu beachten. Durch das Meiden von
Fleisch, Wurst und Fisch entfallen Eisenquellen, die für den menschlichen
Körper gut verfügbares Hämeisen (Fe2+) enthalten. Pflanzliche
Lebensmittel sowie Milch und Milchprodukte enthalten ausschließlich
Nicht-Hämeisen (Fe3+), das schlechter vom Körper aufgenommen werden
kann. Durch die Zufuhr von Vitamin C und anderen organischen Säuren (z.B.
Milchsäure) kann jedoch die Verfügbarkeit des Eisens aus pflanzlicher Nahrung
verbessert werden. Bei vegetarischer Ernährung sollte daher gezielt eisenreiche
Lebensmittel wie Quinoa, Hirse, Haferflocken, Nüsse und Samen, dunkelgrünes
Blattgemüse sowie Hülsenfrüchte, in Kombination mit Vitamin-C-reichen
Lebensmitteln, wie Orangensaft und Gemüse, verzehrt werden.
Zink
Studien zeigen, dass die Zufuhr von Zink bei Vegetariern oft niedriger ist
als bei Nicht-Vegetariern. Hinzu kommt, dass die Verfügbarkeit von Zink aus
pflanzlichen Lebensmitteln durch verschiedene Inhaltsstoffe (z.B. Phytate)
gehemmt wird. Trotzdem ist die gemessene Zinkversorgung im Blut bei beiden
Gruppen meist gleich. Dennoch sollten Vegetarier auf den Verzehr zinkreicher
Lebensmittel, wie Haferflocken und anderes Vollgetreide, Nüsse und Samen sowie
Hülsenfrüchte achten.
Jod
Ein weiterer potentiell kritischer Nährstoff ist Jod. Nur wenige
Lebensmittel, wie Seefisch, sind von Natur aus reich an Jod. Da auch in der
Allgemeinbevölkerung nur wenig Fisch gegessen wird, ist Jod kein spezielles Vegetarier-Problem.
Unabhängig von der Ernährungsweise sollte beim Kochen ausschließlich mit Jod
angereichertes Salz verwendet werden. Auch verschiedene Algen mit mäßigem
Jodgehalt (z.B. Nori) können in kleinen Mengen zur Verbesserung der Jodversorgung
beitragen und den Speiseplan bereichern.
Vitamin D
Auch die unzureichende Versorgung mit Vitamin D betrifft die
Gesamtbevölkerung. Das liegt vor allem daran, dass die empfohlenen Zufuhrmengen
von 10 µg pro Tag kaum durch die Nahrung gedeckt werden können. Vitamin D ist
nur in wenigen Lebensmitteln in nennenswerten Mengen enthalten, vor allem in
fettem Seefisch. Den Großteil unseres Vitamin-D-Bedarfs kann unser Körper unter
dem Einfluss von Sonnenlicht normalerweise selbst herstellen, sofern wir uns
ausreichend im Freien aufhalten (etwa 15-30 Minuten pro Tag). Diese
körpereigene Synthese von Vitamin D durch UV-B-Sonneneinstrahlung reicht zwar
in den sonnenreicheren Monaten (Mitte April bis Anfang Oktober) aus, nicht
jedoch während der restlichen Zeit. Von Oktober bis etwa Mitte April ist deshalb
– nicht nur bei Vegetariern – die Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln sinnvoll,
um eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung auch im Winter sicherzustellen.
Vegetarische Ernährung ist nachhaltiger
Neben den gesundheitlichen Vorteilen, die eine vegetarische Ernährung bei
guter Lebensmittelauswahl mit sich bringt, hat der Vegetarismus zahlreiche
weitere positive Aspekte. Im Vergleich zur üblichen fleischlastigen Ernährung
ist er deutlich nachhaltiger, etwa in Bezug auf Umwelt, Klima und Welternährung.
So werden die sogenannten „Nutztiere“, die der Fleischproduktion dienen, mit
einem hohen Anteil importierter Futtermittel gemästet. Diese Ackerfrüchte, wie
Getreide und Sojabohnen, könnten den Menschen in den Herkunftsländern direkt
als Grundnahrungsmittel dienen. Über den Weg der Tierfütterung geht jedoch ein
Großteil der enthaltenen Nahrungskalorien und des Nahrungsproteins
unwiederbringlich verloren: um eine Kalorie in Form von Fleisch zu erzeugen,
müssen etwa 10 Kalorien aus pflanzlichen Futtermitteln aufgewendet werden. Weiterhin
trägt die Produktion von tierischen Lebensmitteln maßgeblich zur Klimaerwärmung
bei. Die weltweite Tierhaltung verursacht mehr Treibhausgase als der gesamte Verkehrssektor.
Auch der Ressourcenverbrauch, z.B. von Wasser, ist bei der Produktion und
Verarbeitung tierischer Lebensmittel deutlich höher als bei der Herstellung von
pflanzlichen Lebensmitteln. So verbraucht die Herstellung von einem Kilo
Kartoffeln etwa 1.300 Liter Wasser, während es bei einem Kilo Rindfleisch über
15.000 Liter sind.
Eine vegetarische Ernährungsweise bringt somit Vorteile sowohl für den einzelnen
Menschen als auch für die Weltbevölkerung, die Tiere und unsere Erde. Als nachhaltige
und ressourcenschonende Ernährungs- und Lebensweise ist sie deutlich zukunftsfähiger
als die derzeit übliche Wohlstandsernährung.
Autor: Dr. Markus Keller
Dr. Markus Keller ist Ökotrophologe und leitet das Institut für alternative und nachhaltige Ernährung (IFANE) in Gießen. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die Themen alternative Ernährungsformen, Vegetarismus/Veganismus sowie nachhaltige Ernährung; dazu zahlreiche Vorträge, Seminare, TV-, Radio- und Presse-Interviews sowie Veröffentlichungen. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vegetarierbund Deutschland e. V. (VEBU) und leitet die Abteilung Wissenschaft und Forschung beim Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung e. V. (UGB). Anfang 2010 ist sein neues Fachbuch „Vegetarische Ernährung“ (Co-Autor Prof. Claus Leitzmann) im UTB-Verlag erschienen.
Literatur
Claus Leitzmann und Markus Keller
Vegetarische Ernährung
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